Moskauer Wirtschaftsforum fordert radikales Umdenken in der Wirtschaftspolitik
Wer glaubt, in Russland gäbe es keine kritischen Debatten, sollte einmal das Moskauer Wirtschaftsforum besuchen. Beim diesjährigen Forum wurden Regierung und Zentralbank erneut für investitionshemmende hohe Zinsen und mangelnde Hilfe für die heimische Industrie kritisiert.
Quelle: deutsch.rt.com
Unter welcher Ordnung entwickelt sich die Wirtschaft am besten, fragte Ruslan Ginsberg Leiter des Instituts für Wirtschaft an der Russischen Akademie der Wissenschaften bei seiner Eröffnungsrede auf dem Moskauer Wirtschaftsforum, dass am Donnerstag und Freitag stattfand. Ginsberg erinnerte daran, dass die russische Wirtschaft 1998 von den Folgen der Schocktherapie des damaligen Finanzministers Jegor Gajdar und anderer „fanatischer Rechtsliberaler“ gerettet wurde. Die Preise waren in Folge einer massiven Rubelabwertung 1998 um das 26 fache gestiegen.
Primakow hat die Wirtschaft bekanntlich mit staatlichen Eingriffen vor dem Zusammenbruch gerettet. Doch kurze Zeit später habe die russische Regierung, die von Jegor Gajdar begonnene Politik von Privatisierung und Deregulierung fortgesetzt. Der positive Bezug auf Primakow war nicht zufällig. Grinberg ist ein Anhänger sozialdemokratischer Ideen und staatlicher Interventionspolitik.
Bei der Eröffnungsveranstaltung des diesjährigen Moskauer Wirtschaftsforums im Schuwalow-Komplex der Staatlichen Lomonossow-Universität am Donnerstag war der Andrang groß. In dem Hörsaal mit seinen 500 Sitzplätzen gab es keine freien Stühle. Viele Zuhörer standen. In den Korridoren drängelten sich die Zuschauer vor den aufgestellten Video-Monitoren. Die Besucher, meist Lehrpersonal von Universitäten, Forscher, Studenten und Beamte, konnten an den zwei Forums-Tagen unter 40 Veranstaltungen wählen.
Welchen Weg sollen wir gehen, den von China oder den der Ukraine?
Welchen Weg solle Russland nun gehen, fragte Grinberg rhetorisch, den chinesischen – mit Wirtschaftserfolgen ohne Demokratie – oder den der Ukraine – mit „angeblicher Demokratie“ aber einer „fürchterlichen Wirtschaftslage“. Die Frage stellte Grinberg ans Podium. Er bekam aber keine klare Antwort. Dass die liberalen Marktradikalen mit ihrem Latein völlig am Ende sind, könne man am Beispiel Polen sehen, so Grinberg. Das Nachbarland, einst Vorbild der postsozialistischen Länder in der Übergangsphase zum Kapitalismus, verliere heute seine demokratischen Werte.
Die anderen Teilnehmer des Podiums auf der Eröffnungsveranstaltung machten klar, dass der Staat stärker in die Wirtschaft eingreifen muss, Spekulation mit Währungsreserven stoppen, und stattdessen Investitionen im produzierenden Sektor fördern sollte.
Der stellvertretende Vorsitzende des Duma-Komitees für Bildung, Oleg Smolin, forderte außerdem eine stärkere Förderung des „menschlichen Faktors“. Die Bereiche Bildung und Gesundheit würden von der Regierung kaputtgespart.
Unternehmer aus der Weiterverarbeitung und Linke ziehen an einem Strang
Das Moskauer Wirtschaftsforum findet seit 2013 jährlich statt. Es versteht sich als Gegenpol zum Gajdar-Forum. Während sich auf dem Moskauer Wirtschaftsforum die linken und patriotischen Kritiker liberaler und neoliberaler Wirtschaftspolitik versammeln, trifft man auf dem Gajdar-Forum, das seit 2010 jährlich im Januar stattfindet, die Anhänger einer liberal oder neoliberal ausgerichteten Wirtschaftspolitik.
Der ehemalige Finanzminister und bekannteste liberale Wirtschaftsexperte in Russland, Aleksej Kudrin, war trotz Einladung nicht zum Moskauer Wirtschaftsforum gekommen, erklärte der Organisator des Forums, Konstantin Babkin. Der Unternehmer Babkin, zu dessen Konzern „Neue Zusammenarbeit“ die bekannte Mähmaschinenfabrik Rostselmasch in Rostow am Don gehört, ist unter den Unternehmern, die meinen, die Entwicklung der Industrieproduktion in Russland werde durch den hohen Leitzins der Zentralbank – zur Zeit neun Prozent – gebremst. Zuviel Geld befinde sich in russischen Banken oder sei in ausländischen Wertpapieren angelegt, anstatt dass es in der russischen Industrie investiert wird.
Wirtschaftsexpertin Oksana Dmitrijewa: „Die Krise ist hausgemacht“
Dass es in Russland eine Stagnation in der Wirtschaft und nur ein sehr geringes Wachstum von knapp über Null Prozent gibt, sei Schuld der Zentralbank und der Regierung meinten die Kritiker auf dem Wirtschaftsforum. Die bekannte Wirtschaftsexpertin Oksana Dmitrijewa, die früher für die Partei Gerechtes Russland in der Duma saß und heute Mitglied des Haushalts-Ausschusses der Stadt St. Petersburg ist, erklärte, die Wirtschaftskrise in Russland sei „selbstgemacht“.
Die Krise sei „Resultat der Politik der Zentralbank und der Regierung. Der Staat ignoriere, dass sich die Wirtschaft im Abwärtstrend befinde. Die Investitionen gingen zurück und die Hilfen des Staates an die Banken hätten nicht zu den gewünschten Resultaten geführt.
„Es werden keine Maßnahmen unternommen, Kredite bleiben so teuer wie sie waren, es gab und es gibt keine steuerlichen Anreize, die Verminderung der Kaufkraft ist 2016 höher gewesen als 2015.“
Zuviel spekulatives Kapital, zu wenig Investitionen
Der Bankensektor habe im letzten Jahr einen Gewinn von umgerechnet acht Milliarden Euro gemacht, während der reale Sektor faktisch keinen Gewinn gemacht habe, erklärte Juri Boldyrew. Amerikanische Banken könnten in Russland Gewinne in Höhe von elf Prozent machen. Diese Gewinne würden dann ins Ausland transferiert, meinte der Forums-Organisator Konstantin Babkin.
Die Politik der Zentralbank sei „exotisch“, meinte Sergej Glasjew, einer der Wirtschaftsberater von Wladimir Putin. Alle Länder, außer Russland, vergrößerten das Volumen ihrer Wirtschaftskredite, weil die Umstellung auf neue Technologien sehr risikoreich sei.
„Bei uns sind Bedingungen geschaffen worden, damit sich Spekulanten bereichern können. Die Währungsreserven in Russland sind doppelt so hoch wie das in der Wirtschaft investierte Geld. Während die Investitionen und die wirtschaftliche Aktivität zurückgeht, hat sich die Zahl der spekulativen Geldoperationen verfünffacht“.
Was schlagen die Kritiker der Regierung vor?
Das Rezept von Glasew und anderen Regierungskritikern auf dem Forum ist einfach. Man müsse unbedingt die Geldmenge erhöhen, aber das Geld muss unter Kontrolle zur Entwicklung des realen Sektors, das heißt der Landwirtschaft und der Industrie, ausgegeben werden. Außerdem müssten die Investoren in neue Technologien investieren, „um ein Wachstum mit Perspektive zu erreichen“.
Mit billigen Krediten könne man im Jahr ein Wachstum von acht bis zehn Prozent erreichen, so Glasew. Der Anteil der Bankkredite bei neuen Investitionen liege zur Zeit bei nur acht Prozent. Man müsse den Anteil auf 40 Prozent erhöhen.
Die Regierung lege immer wieder neue Strategiepläne vor, deren Laufzeiten stillschweigend geändert würden. „Kein einziger Minister übernimmt die Verantwortung für Stückzahlen, Kilometer und Kubikmeter“, erklärte der stellvertretende Vorsitzende des Duma-Komitees für Arbeit und Sozial-Politik, Nikolai Kolomejzew. Seit 15 Jahren rede man nun schon über Modernisierung und Innovationen, aber der Anteil der weiterverarbeiteten Industrie am Bruttoinlandsprodukt sei um 15 Prozent gesunken, während der Anteil des Handel am Bruttoinlandsprodukt um das Dreifache Gestiegen sei.
„Krise des Kapitalismus: Sozialdemokratie Antwort“
Die Organisatoren des Forum fühlten sich keineswegs als politische Outsider, sondern als Teil eines weltweiten Trends, weg vom aufgeblähten virtuellen Finanzsektor hin zur Entwicklung des Produktionssektors und einer Stimulierung des Wirtschaftsprozesses durch den Staat. Mehrere Wirtschaftsexperten aus Polen, den USA und China traten auf dem Forum auf.
Auf einer von Ruslan Grinberg geleiteten Podiumsdiskussion zum Thema „Krise des Kapitalismus: Sozialdemokratische Antwort“, die US-Ökonomen Jeffrey Sommers und David Laibman auf, beide scharfe Kritiker der neoliberalen Wirtschaftspolitik. Laibmam schlug vor, den Titel der Veranstaltung umzubenennen in „Krise des Kapitalismus: Antwort der progressiven Linken“. Dieser weiter gefasste Veranstaltungs-Titel war gerechtfertigt, denn auf der Veranstaltung sprachen auch Sozialisten und Marxisten.
Großen Andrang gab es nicht nur bei den Plenarveranstaltungen sondern auch bei über 40 Veranstaltungen, die in Nachbar-Sälen stattfanden. So gab es etwa eine Veranstaltung zur deutsch-russischen Zusammenarbeit mit dem ehemaligen Kanzler-Berater Horst Teltschik. Auf einer von dem marxistischen Wirtschaftsprofessor Aleksander Busgalin geleiteten Veranstaltung zu der Frage „Russische Revolution: Lehren für die Wirtschaft der Zukunft“ trat die neue Leiterin des Moskauer Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Kerstin Kaiser, auf. Sie erklärte, Fragen wie Demokratie, Frauenrechte und Ökologie müssten zum Programm einer linken Bewegung unbedingt dazugehören.