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Publiziert: 21 März 2017 – 11:50

Kamtschatka: „Hier beginnt Russland“

Moskauer Deutsche Zeitung
Schneebedeckte Vulkane und viel unberührte Natur: Kamtschatka im äußeren Osten Russlands ist anderthalb mal so groß wie Deutschland - hat aber nur 310 000 Einwohner. Die MDZ sprach mit dem Künstler Ullrich Wannhoff, der Kamtschatka seit Jahren bereist, über das Leben auf der Halbinsel am Pazifik.

Herr Wannhoff, Sie bereisen seit 25 Jahren regelmäßig die Halbinsel Kamtschatka am östlichen Rand von Russland – wie kam es dazu?

Nach der Wende sind die meisten Ostdeutschen ja eher in Richtung Westeuropa verreist. Doch bei mir war das anders. Ein Freund hat damals zu mir gesagt: „Ulli, wir könnten doch ganz weit in den Osten fahren – bis kurz vor Amerika. Da sind wir bestimmt die Einzigen.“ Das haben wir dann auch getan. Und Kamtschatka lag eben am östlichsten. Als ich dann da war, fand ich die Landschaft, die Vulkane und die unberührte Natur und die Tierwelt so großartig, dass ich bis heute da hängen geblieben bin.

Was ist denn das Besondere an der Natur von Kamtschatka?

Kamtschatka ist neben Indonesien eine der aktivsten tektonischen Zonen der Erde. Hier gibt es viele aktive Vulkane wie zum Beispiel den Goreli im Süden der Halbinsel. Ich bin immer wieder beeindruckt, bei Wanderungen zu sehen, wie die Lava aus der Erde fließt, der Rauch aufsteigt und die Asche durch die Luft fliegt. Einfach alles ist in Bewegung! Außerdem ist die Natur hier noch weitgehend in Ordnung. Es gibt Bären, Elche, viele Küstenvögel und allein fünf essbare Lachsarten. Die Küste wurde hier nämlich nicht so aktiv abgefischt wie im gegenüberliegenden Alaska. Zudem gibt es mehrere Naturschutzgebiete. Die Landschaft um den Vulkan Kronotzkij ist sogar Weltnaturerbe.

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Foto: Nation Geographic

Warum ist Kamtschatka für viele Russen ein weitgehend unbekannter Teil ihres Landes?

Kamtschatka war bis Anfang der 1990er Jahre Sperrgebiet, da ist man gar nicht reingekommen. Denn in der Hafenstadt Petropawlowsk-Kamtschatskij gibt es einen eisfreien Hafen. Dort waren Kreuzer und U-Boote der sowjetischen Pazifikflotte stationiert. Diese war nach der Nordflotte aus Murmansk die größte U-Boot-Flotte der Sowjetunion. Kamtschatka war strategisch wichtig, weil die Militärs von hier Zugang zum offenen Meer hatten. Auf der anderen Seite liegt ja schon Amerika. Im Jahr 1990 hat Gorbatschow das Sperrgebiet dann aber geöffnet. Erst danach ist man dort auch als Russe mit einem Zivilberuf reingekommen.

Etwa zwei Prozent der Bevölkerung sind Ureinwohner. Sprechen sie noch ihre Sprachen im Alltag?

Heute dominiert ganz klar das Russische. Die Russen sind ja schon seit über 300 Jahren auf Kamtschatka, und die eingeborenen Völker sind mittlerweile schon weitgehend russifiziert. Zudem passen sie sich immer mehr an, heiraten Russen und sprechen auch untereinander Russisch. Unter Stalin wurden die Sprachen zudem auch unterdrückt. Nach dem Ende der Sowjetunion gab es dann eine Rückbesinnung auf die eigene Kultur. Es entstanden Schulen, in denen die alten Sprachen wieder unterrichtet wurden. Die EU hat in den 1990er Jahren Lehrbücher für diese Sprachen herausgegeben. Doch junge Itelmenen oder Korjaken lernen heute lieber Englisch oder Deutsch als ihre eigene Sprache. Das hat wirtschaftlich einfach mehr Perspektive.

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Wie leben die Ureinwohner heute?

Die leben fast gar nicht mehr traditionell. In den Dörfern hat jeder Fernseher, Telefon und Computer. Das ist wie bei uns in Deutschland. Wenn ich mal mit Rentierhirten oder Jägern unterwegs bin, dann sind das meist ältere Menschen. Die jungen Leute wollen einfach nicht mehr raus. Die hängen wie ihre Altersgenossen aus dem Westen vor den Computern.

Wovon leben die Menschen auf Kamtschatka?

In den Städten gibt es genug Arbeit. Viele Menschen arbeiten in der Fischindustrie. Außerdem gibt es wieder zahlreiche Stellen bei der Armee – auch im zivilen Bereich. Unter Putin wird wieder mehr Geld in die Flotte gesteckt. Zudem wird auf Kamtschatka auch im großen Stil Gold abgebaut. Dort finden viele Menschen eine Beschäftigung. An der Westküste Kamtschatkas gibt es auf Erdgasfeldern Arbeitsplätze.

Und wie sieht es auf dem Land aus?

Schlecht! Auf den Dörfern gibt es eine sehr große Arbeitslosigkeit, weil die Landwirtschaft zusammengebrochen ist. Dort leben die Menschen von Kartoffeln, Gurken und Tomaten aus den eigenen Gärten. Die Leute fischen auch und sammeln im Herbst große Mengen Pilze und Beeren, um über den Winter zu kommen. Arbeit gibt es da nicht. Trotzdem haben die Leute voll zu tun, um ihre Existenz zu sichern.

Wie unterscheiden sich die Lebensumstände von denen im restlichen Russland?

Vieles ist teurer. Zum Beispiel muss man für Lebensmittel mehr zahlen als in Moskau. Oft sind sie sogar doppelt so teuer! Denn die Lebensmittel müssen ja erst mit dem Flugzeug oder per Schiff herangeschafft werden. Eine durchgehende Landverbindung nach Kamtschatka gibt es nicht.

Unterstützt die Regierung die Einwohner von Kamtschatka?

Ja, Einwohner von Kamtschatka können alle zwei Jahre kostenlos Eltern oder Verwandte im restlichen Russland besuchen. Der Staat zahlt die Flugtickets. Das wird sehr ausgiebig genutzt, die Flugzeuge sind im Sommer knackend voll. Da muss man rechtzeitig buchen! Viele Menschen würden sich das sonst nicht leisten können; denen fehlt schlicht das Geld.

Wie ist sonst das Verhältnis zum restlichen Russland?

Die Menschen verfolgen über das Fernsehen, was im restlichen Russland vor sich geht. Kamtschatka ist ja in vielen Fragen von Moskau abhängig. Politische und wirtschaftliche Entscheidungen werden vorgegeben, die Eigenständigkeit ist begrenzt. Das ist oft ärgerlich, wenn man bei vielen Fragen erst mal eine Erlaubnis aus Moskau einholen muss. So dauert vieles oft länger. Aber man ist eben auch vom Geld abhängig, das aus Moskau kommt. Doch es gibt hier auch einen gewissen Lokalstolz. Auf Kamtschatka sagt man, dass hier Russland beginnt (lacht). Denn hier geht als erstes im ganzen Land die Sonne auf.

Quelle: Moskauer Deutsche Zeitung
Das Interview führte Birger Schütz.